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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Neues aus der Serie "Dolles aus der Wissenschaft," Heute: Cultured Neural Networks



Smokin' Caterpillar
16.08.2011, 02:18
Lang lang hat es gedauert, aber ich schreibe mal wieder was über recht abgefahrene wissenschaftliche Experimente. Nun denn, ich muss zugeben, dass das folgende doch wirklich als abgefahren betrachtet werden kann. Trotzdem oder gerade deswegen mag man sich die Frage stellen ob das noch wirklich wissenschaftlich ist und vor allem was der Nutzeffekt des ganzen sein mag. Aber nun zu Sache.

Wie einige vielleicht wissen mögen, haben sich Neuronale Netze in der Informatik von extrem gehypt mit einem Durchhänger in der Kategorie extrem ignoriert zu einem recht standardisierten Verfahren zur Funktionsapproximation gemausert. Nur - und das darf man nicht vergessen - handelt es sich dabei um wirklich recht "einfache" mathematische Abstraktionen der biologischen Wirklichkeit. Die echte Zelle, also das Neuron im Nervensystem, ist auf simpelste Informationsverarbeitung zurecht gestutzt (vlt. schreibe ich auch mal bei Gelegenheit etwas dazu, nur glaube ich nicht, dass ich mich unbedingt abmühen möchte irgendwie komplexere Formeln in dieses Forum zu pressen). Was viele Forscher als Manko ansehen. Ein großes Problem jedoch besteht darin, dass eine Simulation einer echten Zelle einfach zu kompliziert ist.

Aber, haben sich wohl einige Forscher gedacht, aber warum lassen wir die Simulation nicht gänzlich ruhen und greifen die Natur beim Schopf? Denn in diesem Thread geht es nicht um die theoretische Approximation eines Neuron, sondern tatsächlich darum mit echten Nervenzellen Berechnungen anzustellen.

Und eben jenes Feld wird Cultured Neural Networks genannt. Doch bevor wir ein wenig ins Detail gehen, noch eine kurze Übersicht über die Informationsverarbeitung in Nervenzellen. Wer halbwegs in Oberstufen Biologie aufgepasst hat, kann das getrost überspringen. Nur als Übersicht kurz das beste Neuronen Bild aus Wikipedia klauen:

http://spielersofa.de/attachment.php?attachmentid=1952&d=1313449059&thumb=1&stc=1

Information im Gehirn wird in Form von elektrischen Signalen übertragen und verarbeitet, wobei eine unvorstellbare Menge an Neuronen (etwa 10^11) miteinander vernetzt sind und solche Signale austauschen. Prinzipiell werden diese Signale durch sogenannte Ionenkanäle, also kleine Poren in den Zellwänden, die geladene Teilchen durchschleusen können, ermöglicht. Im Normalzustand beträgt das elektrische Potential, das durch die verschiedenen Ionenkonzentrationen innerhalb und außerhalb der Zelle erzeugt wird, etwa -70 mV (milli Volt). Sollte dieses Spannung aber auf -55 mV steigen, etwa durch den Einfluss positiv geladener Ionen, dann erzeugt die Zelle ein Aktionspotential. Dies ist ein starker elektrischer Impuls, der das Axon, also quasi das Kabel der Zelle, entlang wandert und an den sogenannten Synapsen an benachbarte Zellen übertragen wird. An diesen Synapsen löst das Ankommen des Aktionspotentials die Abgabe von chemischen Botenstoffen, sogenannten Neurotransmittern, in den synaptischen Spalt aus. Am anderen Ende des Spalts befindet sich die Postsynapse, welche zur benachbarten Zelle gehört. Dort wiederum finden sich Rezeptoren, die auf die Neurotransmitter reagieren. Je nachdem ob die Neurotransmitter an den Rezeptoren den Einfluss von positiv geladenen oder negative geladenen Ionen auslösen spricht man von positiven postsynaptischen Potential (EPSP) oder negativem postsynaptischen Potential (IPSP). Alle eingehende positive oder negative Information in eine Zelle wird von dieser quasi "aufsummiert" und falls dadurch das Membranpotential wieder den kritischen Wert von -55 mV erreicht so reagiert auch diese Zelle wieder mit einem Aktionspotential.

Des weiteren ist es wichtig, dass die Postsynapsen und die Rezeptoren eine enorm wichtige Rolle für die Adaption und das Lernen spielen. Auch wenn - zugegebenermaßen - die Prinzipien immer noch nicht wirklich entschlüsselt sind. Zum Beispiel falls viele positive eingehende Information mit ausgehender Information im Axon korreliert, so wird die Synapse "stärker". Sprich, es bilden sich mehr Rezeptoren die den Einfluss von positiv geladenen Ionen erhöhen, dies wird auch als Hebbian Learning bezeichnet. Gleichzeitig verkümmern auch Synapsen, die bei ausgehender Information nicht aktiv sind. So in etwa - ganz grob formuliert - funktionieren die Lernmechanismen in unserem Gehirn.

Und eben jene Mechanismen sollen nach Möglichkeit in echten Nervenzellen benutzt werden um etwas zu berechnen. Auf ein sogenanntes Microelectrode Array (MEA) wird ein kleiner Zellhaufen geklebt und in einer Nährlösung gehalten.
So ein Array enthält etwa 60 Elektroden, die einerseits die Aktivität von Zellen messen, aber anderseits auch durch Stromstöße die Neuronen stimulieren können. Ein MEA sieht zum Beispiel so aus:

http://spielersofa.de/asset.php?fid=1834&uid=18&d=1313446899

Die elektronisch abgetasteten Neuronen werden dann mit einem Computer verbunden und durch gezielte Stromstöße via Hebbian Learning darauf trainiert bestimmte Aufgaben zu lösen. Der Zellhaufen wird also entsprechend seiner Leistungen elektrisch geschockt um die Effektivität der Synapsen dahingehend zu verändern Fehler zu vermeiden. Beispielsweise kann die Aktivität von Neuronen mit Stromstößen in niedrigen Frequenzen (etwa 0.2 Hz) gesteigert und mit hohen Frequenzen (ca. 0.2 Hz) reduziert werden.
Weiterhin werden die Reaktionen der Zellen, die auch mit den Elektroden aufgezeichnet werden, dazu benutzt irgendetwas zu steuern. Normalerweise wird die elektrische Aktivität noch gefiltert und beispielsweise mit einem künstlichen Neuronalen Netz (also dem abstrakten Funktionsapproximator) nachbearbeitet.

Die Aufgaben, die den biologischen Nervenzellen gestellt werden, sind teilweise recht witzig. Zum Beispiel ist eine Art künstliche Maus in einer simulierten Umgebung gesteuert worden und das Netzwerk hat gelernt Hindernisse zu vermeiden [1]. Oder aber ein andere Zellhaufen wurde trainiert ein Flugzeug in einem Flugsimulator zu fliegen. Nun ja, lediglich das Seiten- und Heckruder sind angesteuert worden und das Netzwerk musste lediglich lernen das Flugzeug gerade zu halten [2]. Aber der Ansatz war durchaus sehr erfolgreich. Der zugehörige Versuchsaufbau sah so aus:

http://spielersofa.de/attachment.php?attachmentid=1950&d=1313447573&thumb=1&stc=1


Trotzdem sollte einem klar sein, dass Nervenzellen extrem empfindliche Gebilde sind und Mikroelektroden auch nur begrenzt akkurat die elektrische Aktivität messen können und vor allem Nervenzellen auch sehr, sehr rabiat stimulieren. Solche Versuche gleichen in etwa dem Reparieren einer Taschenuhr mit Hilfe eines Vorschlaghammers. Deshalb steht die Wissenschaftlichkeit und vor allem Nützlichkeit solcher Ideen durchaus zur Debatte.

Zum Schluss noch eine weitere witzige Anwendung. Ein anderer Zellhaufen ist an zwei Roboterarme angeschlossen worden und man brachte den Zellen bei zu Malen [3][4]. Die "Werke" dieses Cyborg Künstlers wurden unter anderem auch mehrfach unter dem Titel MEART (Microelectrode Art) ausgestellt. Ob das nun Kunst ist oder nicht, bleibt jedem selbst überlassen:

http://spielersofa.de/attachment.php?attachmentid=1951&d=1313448414&thumb=1&stc=1

Quellen:

[1] DeMarse, Wagenaar, Blau, Steve, Potter, "The neurally controlled animat: Biological brains acting with stimulated bodies," Autonomous Robots, vol. 11, pp. 305-301, 2001.

[2] DeMarse, Dockendorf, "Adaptive flight control with living neuronal networks on microelectrode arrays," in Neural Networsk, 2005 IJCNN '05, Proceedings. 2005 IEEE International Joint Conference on, vol 3, pp.1548-1551, 2005.

[3] Bakkum, Shkolnik, Ben-Ary, Gamblen, DeMarse, Potter, "Removing some 'A' from AI: Embodied Cultured Networks", Springer, 2004.

[4] Bakkum, Gamblen, Ben-Ary, Chao, Potter, "MEART: The Semi-Living Artist," Frontiers in Neurorobotics, vol1, no. 0, 2007.

JIG
16.08.2011, 18:46
Hmm...interessant...

MΞSSIΛS
16.08.2011, 23:35
Noch nicht, aber das wird es sicher mal werden.