Zitat von
Louis
Wie gesagt: Unter anderem bleibt die Frage offen, wie du eine solche Gesellschaft tatsächlich erreichen willst. Allein schon die bereits historisch erlebten Versuche, die "Herrschaft des Proletariats" zu etablieren, endeten alle nicht in Demokratie, wie sich das Marx vorstellte, sondern in mehr oder weniger derben Auswüchsen von Gewalt und Erniedrigung, die dazu führten, dass eine komplette Gesellschaftsschicht anschließend entweder (im drastischen Fall) tot oder ausgewandert war, oder mundtot und eingeschüchtert. Ich halte ehrlich gesagt nichts vom Begriff "Klassenkampf", schon allein weil der Begriff voraussetzt, dass es interessengleiche Klassen gibt, was der heutigen Realität völlig widerspricht. Nicht alle Unternehmer sind gierige Ausbeuter und nicht alle Arbeiter leiden unter den gegenwärtigen Bedingungen. Ich verweise da auch auf pragmatische Denker wie Ho Chi Minh, die relativ früh erkannt haben, dass du eine Gesellschaft ohne bzw. gegen das Bürgertum nicht aufbauen kannst. Sonst ist am Ende die "Herrschaft des Proletariats" nämlich nichts anderes als die "Herrschaft der Bourgeosie/des Kapitals": Eine Diktatur eines Teils der Gesellschaft über andere. Die Tyrannei der Mehrheit ist trotzdem eine Tyrannei.
Darüber hinaus bleibt sowieso die Frage offen, welche Art von Gesellschaft das überhaupt wäre. Dazu sagen Marx und Engels auch fast überhaupt nichts. Wer genau regiert da wie und auf welche Weise? Das Manifest ist ein Werbetext, ein Wahlprogramm in dem praktisch nur gesagt wird, wie gut und weise und gerecht die kommunistische Partei alle Menschen vertreten wird.
Deswegen habe ich dich konkret gefragt, wie du dir eine solche Gesellschaft vorstellst, aber bislang weichst du immer nur aus, und verweist darauf, dass das ja im Text stehe. Generell finde ich solche Diskussionen unergiebig, weil sie unter anderem auch all jene ausschließen, die einen bestimmten Text tatsächlich nicht kennen. Wenn jemand hier diskutieren möchte, ist ja das mindeste, was man verlangen kann, dass er kurz für die anderen seine Ideen zusammenfasst oder kurz seine Stichpunkte nennt.
Ich find die Frage ja spannend, aber sie allein auf einem 150 Jahre alten Parteiprogramm zu basieren, ist etwas blutleer. Wir vergleichen hier gerade eine werbewirksam dargestellte Utopie, die zu bestimmten Schwachpunkten bewusst keine Stellung nimmt, und andere Schwachpunkte gar nicht in Betracht gezogen hat, mit einer uns allen in all ihren Widersprüchen, Hässlichkeiten und Schwierigkeiten bekannten Realität. Das wäre in etwa so, als ob du mich fragen würdest, ob ich lieber im Deutschland der Gegenwart leben will, oder im Schlaraffenland, wo mir die gebratenen Täubchen ins Maul fliegen. Klar würde ich da sagen, dass ich lieber im Schlaraffenland lebe. Wenn dann aber die Wissenschaftler kommen, und mal konkret erklären, dass fliegend gebratene Täubchen zu Fettleibigkeit führen, und wir vermutlich alle mit 30 Jahren an Diabetes und Muskelschwäche sterben würden, sähe die Sache halt schon ganz anders aus.